Einrichtung eines digitalen Klassenzimmers zum Ukrainekrieg durch den Arbeitskreis Politik
von Barbara Bornschlegel (Kommentare: 0)
Der Frühling setzt sich langsam in Kronach durch: Es sind angenehme Temperaturen und die Märzsonne scheint sich das erste Mal in diesem Jahr so richtig satt. Es könnte ein so schöner Tag werden, ein so schöner März werden, ein so schönes Jahr werden … Es könnte!
Ein Konjunktiv, der die Schülerinnen und Schüler des FWG im Anblick der zusammengetragenen Materialien des digitalen Klassenzimmers zum Ukraine-Konflikt zurückwirft in jene Woche im Februar, als der langsam endende Winter politisch entschieden hat, ein wenig länger andauern zu müssen. „Schule muss in diesem Fall mehr leisten!“, so Tobias Pohl, Leiter des Arbeitskreis Politik, zur Entstehung des digitalen Klassenzimmers: „Schule muss einen Raum schaffen für die Sorgen und Ängste der Schülerinnen und Schüler hinsichtlich des Krieges in der Ukraine, Schule muss dieses Ungewohnte, dieses Beängstigende hineinholen in den Klassenraum, darüber reden, so lange, bis es quasi zerredet ist.“
Es war ein trüber Tag, jener Donnerstag im Februar. Grau, einfach nur grau! Die Sonne hatte sich hinter dicken Wolken verkrochen. In der murmelnden Meute der Schülerschaft, die an diesem Morgen zum Schulzentrum strebte, schien es nur ein Thema zu geben: Das ungläubige Staunen darüber, dass Russland nun doch die Ukraine angegriffen hatte. Putin riskiere doch keinen Krieg, vielmehr knurre der russische Bär, vielmehr rassele der Nimmersatte mit den Säbeln. Das löse sich schnell wieder in Luft auf … Jene, welche bereits vor dem Angriff auf die Ukraine vor dem russischen Aggressor gewarnt hatten, jene, welche aufgrund derartiger Mahnungen als Schwarzseher gebrandmarkt wurden, jene wünschten sich im Angesicht der fallenden Bomben nunmehr, sie hätten unrecht gehabt!
Noch zwei Tage zuvor debattierte man am FWG über die Krise in der Ukraine: Keine auf dem Podium glaubte, dass Putin einen Krieg mitten in Europa anzettle. Natürlich hat man den Aufmarsch der russischen Streitkräfte entlang der ukrainischen Grenzen Sorge betrachtet, natürlich hat man eingeräumt, dass die Möglichkeit bestehe, dass Russland nach Luhansk und Donezk greife - doch niemand hat ernsthaft in Erwägung gezogen, dass aus dieser debattierten Möglichkeit eine bittere Tatsache wird, dass aus dieser Option eine vollkommen neue Realität wird.
Hätte man den Krieg vielleicht verhindern können? „Die Frage, ob Europa und die Welt zu lange zugeschaut haben, was Putin treibt, ist sehr schwer zu beantworten.“, so Klaus Adelt, Landtagsabgeordneter der SPD, in seinem Beitrag für das digitale Klassenzimmer: „Jedoch die Gegenfrage lautet, was hätten wir denn tun können anlässlich des Aufmarsches von Truppen an der Grenze zur Ukraine. Wenn wir angegriffen hätten, dann wäre dies für Putin ein gefundenes Fressen gewesen, wesentlich härter gegen die Ukraine wie auch gegen andere Länder in Europa vorzugehen.“ Folglich dann doch das Eingeständnis, dass man abwarten müsse, dass man rote Linien ziehen müsse - und dass man hoffe, dass Putin diese Linien niemals überschreite. Keine Böswilligkeit, vielmehr das Eingestehen einer Tatsache: Die Verhinderung eines dritten Weltkrieges!
„Dieser Krieg markiert eine Zeitenwende.“, so Rainer Ludwig, Landtagsabgeordneter von den Freien Wählern, in seinem Beitrag für das digitale Klassenzimmer des FWG: „Das ist ein menschenverachtender und völkerrechtswidriger Angriff, der die Welt verändert hat.“ Das Erwachen in einem neuen Europa, in einer neuen Welt. Als ob der russische Autokrat mit einem Mal die alte Welt aus den Angeln gehoben, mit einem einzigen Streich zerstört hat und nunmehr danach strebt, die Scherben zu einer neuen Welt zusammenzufügen, wissend darum, dass diese neue Welt den alten Europäern nicht gefallen wird.
Eine Welle von Pressekonferenzen, Statements, Nachrichten flutet die Presseportale, die Zeitungen, das Fernsehen und das Internet. Eine atemberaubende Geschwindigkeit: Die eine Pressekonferenz ist soeben beendet, da startet bereits die nächste. Und dazwischen die zunehmend irritierte Schülerschaft des FWG. Und darum ein nicht mehr zu ermessendes Maß an Schlagzeilen; die Druckerschwärze scheint noch nicht einmal getrocknet, da schockt Moskau erneut die Welt, da poltert es in den Hinterzimmern, da geben mit ernster Miene Politiker und Experten ihre Sicht zur Lage Osteuropas ab. Und immer noch dazwischen diejenigen, die diese neue Welt zu verstehen suchen, sie aber noch immer nicht verstehen.
Seit dem 24. Februar greift Russland vollkommen rechtswidrig nach der Ukraine. Seit dem 24. Februar schieben sich russische Panzer hinein in ein unschuldiges Land, seit dem 24. Februar fallen Bomben, seit dem 24. Februar fühlt man mit dem ukrainischen Volk mit, seit dem 24. Februar vernimmt man geschockt die Berichte von russischen Kriegsverbrechen. Harald Weichert, Schulleiter des FWG, ist besorgt wie alle anderen auch; eine informative Dauerbeschallung, ein Hoffen auf gute Nachrichten. „Ständig mit einem Finger auf der BBC-App und der BR-App. Ich verfolge die Ereignisse sehr intensiv.“, meint der Schulleiter des FWG in seinem Beitrag für das digitale Klassenzimmer: „Es ist ein Thema, dem sich keiner wirklich entziehen kann.“
Gerade deshalb wird das digitale Klassenzimmer von Schülerinnen und Schülern des Arbeitskreises Politik für Schülerinnen und Schüler des FWG aufgebaut: Es soll helfen, diese nichtverstehbaren Vorgänge in der Ukraine zu verstehen, es soll den Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit eröffnen, Fragen zu stellen und Antworten zu erhalten, im Idealfall mit Experten und Politikern, die sich einen Moment Zeit nehmen, um sich den Sorgen der Schülerinnen und Schüler zu stellen. „Ich bin froh, dass sich in diesem digitalen Klassenzimmer nicht nur Politiker äußern, daneben auch Experten.“, so der Leiter des Arbeitskreises Politik. „Man muss sich diese Fragen anhören, sie ernstnehmen und versuchen, diese zu beantworten.“
Gerade jetzt! Inmitten der zunehmend besorgniserregenderen Schlagzeilen: Man habe in Russland die Atomstreitkräfte in Alarmbereitschaft versetzt; man werde die Atomwaffen einsetzen, wenn Russland sich bedroht fühle; man sei von Seiten der NATO auf alles vorbereitet. Das mediale Getöse hält für einen Moment die Luft an: Und urplötzlich muss Guterres, der UN-Generalsekretär, zugeben, dass das, was er noch vor Tagen für vollkommen abwegig gehalten hat, nunmehr wieder die Tagesordnung der Welt bestimmt. Das Spiel mit dem atomaren Bedrohungspotential. Und dazwischen die Schülerinnen und Schüler des FWG - darauf hoffend, dass das alles nur ein böser Traum ist, aus dem man einfach aufwachen muss.
„Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine ist ein Bruch des Völkerrechts. Diese Überschreitung, nicht nur territorialer, sondern auch politischer Grenzen, diese Grenzüberschreitung muss spürbar und für Russland auch schmerzhafte Sanktionen haben.“, so Sebastian Körber, Landtagsabgeordneter der FDP in seinem Interviewbeitrag. Eine Forderung, die verständlich ist! Gleichwohl der Ausspruch eines Politikers im digitalen Klassenzimmer, der den Schülern mehr als deutlich macht: Es ist kein Traum.
Vielmehr eine neue Realität in einer Generation, die den Krieg bisher nur aus der Ferne wahrgenommen hat - die den Krieg in Europa nur noch aus den Geschichtsbüchern kennt. Insofern bekennt Jonas Geissler, Bundestagsabgeordneter der CSU, in seinem Interviewbeitrag, dass der Ukrainekrieg eine Katastrophe darstellt: „Zum ersten Mal seit 1945 hat man gesehen, dass wirklich ein klassischer Krieg in Europa wieder möglich ist, wo zwei Nationen gegeneinander kämpfen und ein Land seinen Nachbarn überfällt.“ Eine Generation, die bis nur den Frieden kennengelernt hat, einen Frieden, für den man nichts hat tun müssen, erkennt nun, wie brüchig der Frieden eigentlich ist, wie beiläufig dieser Frieden wahrgenommen worden ist.
Heute schaut alles anders aus. Die verängstigten Kinder, die fragenden jungen Erwachsenen, sie sitzen in ihren Bänken und sind mit der neuen Realität überfordert. Diese Schülerinnen und Schüler müssen nicht mehr mit einer neuen, einer unliebsamen Wahrheit konfrontiert werden! Diese Schülerschaft weiß: Man ist am 23. Februar zu Bett gegangen - und am 24. Februar ist man in einer neuen, angsterregenden Welt aufgewacht. Man hat nicht nur eine Nacht hinter sich gebracht, sondern vielmehr eine alte Welt verloren. Sie ist in jenem Februarmittwoch geblieben; jener Donnerstag, jener 24. Februar ist neu, ist anders …
Das digitale Klassenzimmer bemüht sich seit dem 28. März, einer zunehmend unsicheren Verlustgeneration Orientierung in dieser neuen Zeit zu geben. Ist das Völkerrecht durch diesen russischen Handstreich abgeschafft worden? Gilt etwa nun nur noch das Recht desjenigen, der das größte Militärreservoir aufbieten kann und es geschickt und ohne jede Skrupel in Bewegung setzen kann? „Nach diesem Krieg muss man gewährleisten, dass das Völkerrecht wieder eingehalten wird.“, so der Bundestagsabgeordnete der CSU weiter: „Denn das Völkerrecht ist genauso wie Menschenrechte unteilbar, universell und immer gültig.“
Eine Beruhigung, formuliert im digitalen Klassenzimmer, ein Erinnern, fast schon nunmehr für die Schülerinnen und Schüler festgehalten im digitalen Klassenzimmer: Ein Klammern an jene Regeln, die sich doch alle Völker gegeben haben. Eine Bedingung für das Zusammenleben aller auf diesem Planeten. Als ob jenes Projekt des Arbeitskreises Politik am FWG all diejenigen zusammenführt, zusammenruft, denen Recht und Gesetz, Freiheit und Demokratie wichtig sind; als ob das digitale Klassenzimmer einen Ankerplatz aufbaut für diejenigen, die im Sog dieser Flut der scheinbaren Veränderung Sicherheit wünschen, ein Vergewissern von alten Vorstellungen, Werten und Normen.
Und dazwischen dann doch, dann auch dasjenige: Ein Fragen nach der Konsequenz … „All diejenigen, die sich für Rechtsstaatlichkeit und Völkerrecht, Demokratie und Menschenrechte einsetzen, sind jetzt aufgefordert, zusammenzuarbeiten und unsere zivilisatorischen Errungenschaften, nämlich den Frieden, zu verteidigen.“, so Sebastian Köber in seinem Statement. Eine notwendige Vergewisserung, dass das Leben in Demokratie und Freiheit, welches bis dahin scheinbar gedankenlos geführt worden ist, nunmehr aktiv verteidigt werden muss.
Es scheint fast so, als läuft die Welt Gefahr, die eine Angst durch eine andere Angst auszutauschen, die eigene Naivität durch eine gebotene Notwendigkeit zu ersetzen. Als ob das Komplexe jenes Konflikts derart vereinfacht werden muss, dass das Grau jener beängstigenden Realität zusehends zu einem einfachen Schwarz-und-Weiß-Denken mutiert. Gerade deshalb müsse Schule Gesprächsangebote bieten, müsse das FWG Kommunikationsräume anbieten, so Weichert in seinem Statement. Nicht nur durch das digitale Klassenzimmer, vor allem aber durch solche Formate! Diese Generation kenne den Krieg nicht mehr, kenne nicht mehr das bange Gefühl, dass der permanente kalte Krieg zu einem heißen Krieg entwachsen könne … Dabei müsse vorsichtig agiert werden, so der Schulleiter: „Die Ängste der Schülerschaft dürfen nicht verstärkt werden.“ Vielmehr muss es darum gehen, den Ängsten eine kommunikative Plattform zu bieten, um darauf die eigene Beklommenheit thematisieren zu können - aber mit dem Ziel, den Ängsten das Irrationale zu nehmen, den Ängsten mit Fakten, mit Einschätzungen, mit Wissen zu begegnen.
Genau dieses Ziel verfolgt das digitale Klassenzimmer: Es schafft die Möglichkeit des Austausches zwischen unsicheren Schülern wie Lehrern, zwischen verängstigten Bürgern und ihren Politikern; sie sollen ins Gespräch kommen, sich austauschen und so das noch immer begrifflich Unbegreifliche langsam in Begriffe überführen, um alsdann über das Abscheuliche in der Ukraine sprechen zu können.
Anhand von Bildern, Karten und Grafiken können sich die Besucher im Whiteboard des Klassenzimmers einen Überblick über den Konflikt verschaffen, so u.a. einen Überblick über die komplexen Verknüpfungen zwischen Russland und Europa, jene ökonomischen Abhängigkeiten, die es uns in Europa und in Deutschland so schwer machen, die Sanktionen durchzusetzen, die von der Ukraine gefordert werden. „Gas ist die Achillesferse unserer Energieversorgung.“, so Ludwig in seinem Interviewbeitrag: „Deutschland bezieht dabei 55 % aus Russland; in Bayern sind es sogar 90 %.“ Neben den Grafiken, Bildern und Materialien können die Besucher sich ebenso die zusammengestellten Reaktionen der westlichen Welt anschauen: Bundeskanzler Scholz in seiner bewegenden Regierungserklärung, aber auch die mitreißenden Statements des NATO-Generalsekretär Stoltenberg sowie die der EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen.
Schließlich können sich die Besucher die Interviews der Politiker und der Experten anschauen - und nicht nur deren Ausführungen folgen, sondern vielmehr demjenigen lauschen, das alle miteinander eint: Die Sorge um jenes Europa, welches durch dieses aggressive und völkerrechtswidrige Handeln herausgefordert worden ist. Gleichwohl die Hoffnung, dass das, was universell und zeitlos gültig ist, auch denjenigen bindet, der meint, er sei aus dieser Universalität herausgehoben. Der Abgeordnete des Bayerischen Landtages für die GRÜNEN, Tim Pargent, meint hierzu: „Die Frage ist doch, ob sich ein Herr Putin einmal vor einem Völkergerichtshof verantworten muss.“ Im Fahrwasser dieser noch immer schockierenden Suche nach den richtigen Wahrnehmungen und Begriffen gewinnt er jener häufig beklommenen Bewertung der Zeitenwende auch etwas Positives ab: „Wir erleben ebenso eine Zeitenwende in Europa und mit Europa, denn Europa wächst zusammen, mehr denn je.“
Ein Stück Hoffnung in einem gesellschaftlichen Suchraum, in welchem noch immer daran gegangen wird, diesen Krieg zu fassen, der noch immer darum bemüht ist, diesem Krieg die Larve von Gesicht zu ziehen, ihn zu zeigen als das was er ist: Das Ende einer alten Welt, verbunden mit der durchaus berechtigten Hoffnung darauf, dass sich Recht und Frieden und Demokratie durchsetzen werden gegen jeden Autokraten, der meint, sich diesen Universalien entziehen zu dürfen!
Jenes Projekt des Arbeitskreises kann nicht mehr sein als das, was es ist: Es ist die Fürsorge von Schülern für Schüler, deren Bemühen, diesem zunehmendem Veränderungsstrom etwas Haltbares entgegenzusetzen. Ein kleines Gedächtnis, eine Stütze, ein Zurückbesinnen auf diejenigen Momente, in denen das Alte eingestürzt worden ist und dazwischen etwas Neues durchzuschimmern sich getraut.
Und doch, so die Schülerinnen und Schüler des Arbeitskreises Politik, soll es mehr sein: „Diese Veränderung ist nicht zu Ende!“, so ein Schüler während des Aufbaus des digitalen Klassenzimmers. Als beruhige ihn jene Beschäftigung, als helfe es, das Unverständliche verständlich zu machen. „Das digitale Klassenzimmer wird so lange mit Presseberichten, Statements, Bildern und Kommentaren gefüllt werden, bis der Krieg zu Ende ist.“ Oder man diejenigen Begriffe gefunden hat, durch welche man das Neue endlich zu beschreiben vermag. Folglich wird das digitale Klassenzimmer geöffnet bleiben, für Fragen und Wortbeiträge, für Bilder und Kommentare, für all diejenigen, die darüber reden wollen, reden müssen …
„Liebend gern hätte ich die Arbeit an diesem Projekt abgeschlossen.“, so Tobias Pohl. Doch es werden weitere Interviews einfließen müssen, weitere Expertenmeinungen gesammelt werden müssen, weitere Medienberichte eingefügt werden müssen … Bis sich der Frühling durchsetzt und der Frieden, nicht mehr nur eine Beiläufigkeit, wieder gelebt werden kann!