Digitale Debatte zum Ukrainekrieg für das digitale Klassenzimmer des Fran-kenwald-Gymnasiums
von Barbara Bornschlegel (Kommentare: 0)
Wandel des Krieges in der Ukraine - eine neue Herausforderung für den Westen!
Seit Monaten tobt der Krieg in der Ukraine. Mittlerweile hat sich das russische Militär an die Gegebenheiten angepasst. Und der Westen fragt sich, wie man diesen neuen Entwicklungen begegnen kann.
Die zu Beginn des Krieges geteilte Hoffnung darauf, dass Russland den Krieg in der Ukraine nicht gewinnen kann, sie weicht zunehmend einer beklemmenden Sorge, einer Angst - und der Frage, wie man helfen kann, wie man die Ukraine unterstützen kann, gar auf was sich vorbereiten muss, so Russland diesen Krieg gewinnt.
„Die Angst wächst, die Sorge wächst.“, so Dr. Moritz Florin, Osteuropa-Historiker der Universität Erlangen-Nürnberg, als er von den Nöten seiner Studienfreunde in Kiew berichtet. Der in den Osten gedrängte Krieg kehrt langsam nach Kiew zurück: Raketen schlagen mittlerweile wieder in Kiew ein und sie holen die Stadtbevölkerung zurück in die zumindest kurzzeitig verdrängte Realität eines aggressiven Angriffskrieges, den man zu Beginn noch auf ukrainischer Seite mit viel Leidenschaft und taktischem Gespür hat aufhalten können.
„Wir sind mittlerweile in einer Phase des Krieges angelangt, die mit den ersten Wochen und Monaten nichts mehr zu tun hat.“, so Dr. Frank Sauer, Politikwissenschaftler der Universität der Bundeswehr in München. Der zum Teil vollkommen kopflos geführte Krieg Russlands zu Beginn dieses völkerrechtswidrigen Expansionsaktes, dieser Krieg scheint sich auf russischer Seite nunmehr zu wandeln: Man habe aus den Fehlern der ersten Phase des Überfalls gelernt, man habe die Taktik, die Strategie den Gegebenheiten angepasst. Infolgedessen weicht nunmehr die anfangs noch optimistische Stimmung einer möglichen Abwehr dieses aggressiven russischen Angriffs einer nunmehr pessimistischen Lageeinschätzung. „In der ersten Phase war die ukrainische Verteidigung noch sehr effektiv, denn man konnte Russland u.a. von der Versorgung abschneiden. Russland hat seine Strategie umgestellt mit dem Schwerpunkt auf den Osten der Ukraine: Mittlerweile fühlt man sich an den ersten Weltkrieg erinnert, denn Russland führt einen massiven Artilleriebeschuss durch.“, so der Politikwissenschaftler. „Wie eine Feuerwalze“ bombt sich das russische Militär durch den Donbass; zurück bleibt Schutt und Asche, zurück bleiben die vollkommen verstörten Menschen, zurück bleiben die mit diesen Eroberungen verbundenen Kriegsverbrechen, ob nun dergestalt, dass Russland verbotene Waffen einsetzt, oder dergestalt, dass man zivile Ziele bewusst bombardiert, oder gar dergestalt, dass man Frauen und Kinder vergewaltigt und jenes Verbrechen sogar noch filmt.
Es ist eine ungewöhnliche Debatte an einem ungewöhnlichen Abend. Eine Debatte, welche für Schülerinnen und Schüler des Frankenwald-Gymnasiums durchgeführt wird, die sich derzeit zurecht in den Pfingstferien erholen. Eine Debatte, die eingebettet ist in die Diskussion um Waffenlieferungen an die Ukraine, um Sanktionen gegen Russland … „Die Thematik ist schlichtweg zu wichtig, die Notwendigkeit der Information der Bevölkerung, breiter Teile der Schülerschaft ist schlicht zu wichtig.“, so Tobias Pohl, Moderator der Debatte und Leiter des Arbeitskreises Politik am FWG.
Gerade deshalb hat der Arbeitskreis Politik sowie Tobias Pohl Experten und Politiker zu einer digitalen Debatte geladen, um die derzeitige Situation in der Ukraine zu reflektieren, um jene Reflexion ins digitale Klassenzimmer des FWG zum Ukrainekrieg einzustellen und so der Aufgabe nachzukommen, die Schülerschaft über den Verlauf dieses schrecklichen Verbrechens zu informieren. „Es sind intensive Gespräche, die man im Hinblick auf diesen Konflikt führen muss. Die Antworten sind nicht einfach! Und diejenigen, die von einfachen Antworten ausgehen, die meinen, es gebe entweder ein Schwarz oder ein Weiß, entweder ein Richtig oder ein Falsch, verkennen vollkommen, dass der Krieg trotz aller Eindeutigkeit ein merkwürdiges graues Dilemma erzeugt.“, so Tobias Pohl
Es geht nicht darum, zu verkennen, wer den Krieg angefangen hat; es geht derzeit aber darum, wie man einerseits der Ukraine helfen kann, andererseits das Leiden beenden kann, welchen Preis man im Westen Europas bereit ist, zu zahlen. Gerade bei der Debatte um das richtige Maß an Sanktionen bemerkt man schnell das bisweilen politische Ausloten von Grenzen der Belastung, das fragwürdige Austarieren von nationalen Befindlichkeiten und Bedürfnissen. „Einigkeit auf EU-Ebene heißt nicht immer Einigkeit. Alle haben unterschiedliche Bedürfnisse, die in den Verhandlungen zum Tragen kommen. Dennoch kann man sagen, dass seit Beginn des Krieges viele Sanktionspakete auf den Weg gebracht worden sind. Darüber bestand Einigkeit.“, so Elke Vosteen, Mitglied im Speakers-Pool Team EUROPE DIRECT der Europäischen Kommission. Man ist sich einig, dass man gegen den Aggressor Russland vorgehen muss; man ist sich aber nicht einig darüber, wie man gegen Putin, wie man gegen das russische Militär, die russische Wirtschaft sinnvoll vorgehen kann - vorgehen soll. „Man hat Rücksicht genommen auf bestimmte Staaten, die zum Beispiel keinen Seezugang haben, u.a. Ungarn. Gleichwohl sieht man es aber auch an der Diskussion in Deutschland hinsichtlich der Frage, wie sich die Sanktionen auf die deutsche Industrie auswirken.“, so Vosteen im weiteren Verlauf der Debatte.
Natürlich können Sanktionen nicht bewirken, dass Russland augenblicklich sein Militär zurückzieht, seinen völkerrechtswidrigen Angriff augenblicklich beendet, denn „Sanktionen greifen langfristig!“, so das Mitglied im Speakers-Pool Team EUROPE DIRECT der Europäischen Kommission. Man wolle sich Verhandlungsspielräume offenlassen.
Nur welche? „Die Hoffnung ist, wenn Putin merkt, dass die Sanktionen greifen, wenn die russische Wirtschaft massiven Schaden nimmt, und wenn man zudem merkt, dass ein Wettrüsten wie im kalten Krieg gegen eine starke, geeinte NATO unmöglich ist, dass Putin dann einlenkt, an den Verhandlungstisch zurückkehrt, und es einen Frieden geben kann. Als Europäerinnen und Europäer müssen wir gemeinsam mit der USA darauf hinwirken, dass von Putin aufgekündigte Verträge über Waffenkontrolle und Abrüstung neu verhandelt und abgeschlossen werden.“, so Johannes Wagner, Bundestagsabgeordneter der GRÜNEN. Ein Hoffen, dass sicherlich berechtigt ist, dass dem Kalkül unterworfen ist, dass man es mit jemandem zu tun hat, der bereit ist, zu verhandeln. Ein Kalkül, dass der Logik eines westlichen Narrativs unterworfen zu sein scheint: Wie will man mit einem Autokraten verhandeln, der von ganz anderen territorialen Gegebenheiten ausgeht. Wie will man mit Putin verhandeln, der davon träumt, jenes russische Imperium wiederaufzubauen, welches vor dem Zusammenbruch des Ostblocks, welches vor der Implosion der Sowjetunion bestanden hat.
„Man kann den Konflikt nie unabhängig von den anderen imperialistischen Ambitionen der russischen Seite betrachten.“, so Jörg Nürnberger, Bundestagsabgeordneter der SPD und Mitglied im Ausschuss für Angelegenheiten der Europäischen Union sowie im Ausschuss für Verteidigung. Russland unter Putin träumt von einer anderen Weltordnung: Man blickt sehnsüchtig in jene Zeit zurück, als die Sowjetunion nicht nur ihre Teilrepubliken beherrschte, sondern zudem auch die von Moskau abhängigen Satellitenstaaten dominierte. Die Hoffnung des Westens darauf, dass man nicht nur mit dem Russland nach 1990 zusammenarbeiten könne, die Hoffnung vieler Politiker in Westeuropa darauf, dass Russland die territoriale Integrität sowie die Souveränität der ehemals von Moskau politisch dominierten Staaten, sie ist spätestens an dem Tag verflogen, als Russland völkerrechtswidrig die Krim annektiert hat und damit das Budapester Memorandum einseitig gebrochen hat.
„Es gab unterschiedliche Botschaften, die von Putin ausgegangen sind“, so der Osteuropahistoriker Florin in der Debatte auf die Frage, ob der Westen sich früher auf dieses Szenario hätte vorbereiten können. „So die Rede Putins im Bundestag, die positiv aufgenommen worden ist und in der er seine Bereitschaft zum Verhandeln signalisiert hat, ebenso seine Bereitschaft, auf Deutschland und Europa zuzugehen.“, so Florin weiter. Gleichwohl merkt er an, dass bei all dieser möglichen Annäherungspolitik stets eine Seite Putins zwar gesehen, aber scheinbar nicht wirklich wahrgenommen worden ist. „Der andere Putin, das waren seine Taten, die bereits stattgefunden haben, so die Kriege in Georgien, in Tschetschenien, so die eigenwillige russische Ausdeutung hinsichtlich der Politik mit russischen Ressourcen wie Kohle, Öl und Gas.“ Diese russische Politik hat man in den westlichen Hauptstädten zwar durchaus bemerkt. Inwieweit man sie wirklich ernstgenommen hat, bleibt insofern fraglich, als dass die damalige Bundesregierung noch nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim weiterhin Verträge hinsichtlich der Energieversorgung mit Russland abgeschlossen hat. Ein Bewusstsein dafür, dass diese Verträge zu einer Abhängigkeit von Russland führen, ein solches Bewusstsein ist scheinbar nicht, zumindest noch nicht entscheidend ausgeprägt gewesen. „Die Russlandpolitik nach der Annexion der Krim, insbesondere der Verkauf deutscher Gasspeicher an russische Unternehmen und die Energieverträge, die abgeschlossen worden sind, sind klar als Fehler zu werten.“, so Wagner in der Debatte.
Im Nachhinein, aus der Außenperspektive des Nichtpolitikers, sind solche Urteile recht einfach. Insofern verweist Markus Ferber, CSU- Abgeordneter im Europäischen Parlament, darauf hin, dass man im Dialog mit Moskau geblieben ist. Man kann der ehemaligen Bundeskanzlerin, Frau Merkel, viel vorhalten, aber „man muss ihr zugutehalten, dass sie die Einzige war, die einen Gesprächsfaden zu Putin aufrechterhalten hat – auch in der Zeit, wo andere Länder nicht mehr sprechfähig waren oder sprechen wollten.“, so Ferber. Durchaus! Niemand leugnet die Notwendigkeit des Gesprächs, das Verhandeln, das Hoffen darauf, dass durch den Dialog der bestialische Krieg beendet werden kann. Doch um welchen Preis? „Man vergisst, dass Russland im Budapester Memorandum die territoriale Integrität der Ukraine garantiert hat.“, so der CSU-Abgeordnete. Diese territoriale Integrität ist aus Sicht Russlands nicht mehr verhandelbar. As der Perspektive der Ukraine geht es aber genau darum! Es geht um den Rückzug russischer Truppen aus dem Donbass, es geht um die Rückgabe der Krim an die Ukraine - und sicher wird es darum gehen, dass die Ukraine nicht nur den Krieg völkerrechtlich aufarbeiten will und wird, sondern dass die Ukraine die russischen Verbrechen, die während des Krieges begangen worden sind, verfolgt und verurteilt wissen will. Wer kann diese Forderungen aus Kiew ausschlagen?
Im Gegensatz dazu wachsen die Sorgen der baltischen Staaten, wachsen die Sorgen derjenigen Staaten, die dem ehemaligen sowjetischen Hegemon durch den Zufall der Geschichte zugeordnet worden waren. Diese Sorgen bewegen nicht nur die osteuropäischen Staaten. „Dieser Krieg ist im Moment die militärische Seite einer Strategie, die sich in der politischen Führung von Russland seit einigen Jahren abzeichnet und die hier in dem Krieg im Moment kulminiert. Ich denke nicht, dass wenn die Kampfhandlungen in der Ukraine vorbei sind und Russland erheblich geschwächt aus diesem Konflikt herausgeht, die Bedrohungslage für die anderen europäischen Staaten, insbesondere im Baltikum und an der Ostflanke der NATO, vorbei sind.“, so der verteidigungspolitische Experte der SPD. Ein Szenario, das mehr Fragen aufwirft als nur eine Frage zu beantworten sich getraut.
Ist die Rechnung so einfach? Verliert die Ukraine den Krieg, haben wir es mit einem neuen Russland zu tun, mit einem expansiven Russland zu tun, mit einem Russland, das einfach mit seiner Atommacht spielt, seiner militärischen Macht, seinem geschichtsrevisionistischem Anspruch auf einen Teil Europas, der sich selbst aus dieser Unterdrückung befreit hat und nunmehr nach Entwicklung und Entfaltung in einem freien Europa strebt? Zynisch könnte man sich an den ersten Tagen des Krieges orientieren. „Man hat sich zu Beginn des Krieges überrascht die Augen gerieben, welche Leistungen die Ukraine erzielt hat.“, so Dr. Sauer. Die mangelhafte Logistik Russlands, die katastrophale Ausbildung auf taktischer Ebene der Infanterie, „sehr viel erstaunliches Unvermögen mit Blick auf die eigene militärische Führung.“, so der Sicherheits- und Verteidigungsexperte der Universität der Bundeswehr in München. „Herr Putin hat in der Tat gehofft, dass Russland, dass er mit diesen Streitkräften in drei Tagen Kiew einnehmen kann.“
Und nun? Russland hat gelernt. Russland hat erheblich dazu gelernt. Es nimmt mit völkerrechtswidrigen Mitteln die gesamte Welt in Beschlag, denkt man daran, dass Russland die Ausfuhr von Getreide verhindert, denkt man daran, dass Russland bereits zuvor machtkalkuliert mit Öl- und Gaspreisen experimentiert hat. Russland ist lernfähig. Und Russland, so scheint es, ist zu vielem bereit. Zu allem?
„Die Ukraine braucht Waffen mit größerer Reichweite, um sich gegen Russland mit diesem massiven Artilleriebeschuss zur Wehr setzen zu können.“, so Dr. Sauer weiter. Eine scheinheilige Diskussion in Deutschland, so die Debatte, zu unterscheiden zwischen Offensiv- und Defensivwaffen. Eine Debatte, die am Kern des Problems vorbeigeht: Welche Waffen müssen wir liefern, welche Ziele verfolgen wir, welche Optionen haben wir in der Hinterhand. Und beenden wir mit Waffenlieferungen diesen Krieg!?
Die einen sind froh, politisch nicht entscheiden zu müssen; die anderen mahnen, dass man bei allen Waffenlieferungen, bei allen Sanktionen mit Sorgfalt abwägen muss: Es geht nicht darum, zu unterscheiden zwischen Schwarz oder Weiß; es geht darum, einzusehen, dass der Krieg bei allen Entscheidungen ein merkwürdiges Grau erzeugt. So weiß man in Deutschland um die Notwendigkeit von Waffenlieferungen, denn der Ukraine muss man nicht nur mit Worten beistehen, sondern vor allem auch mit Taten, mit handfesten Taten, mit Waffen, mit Sanktionen, mit Embargos. Gleichwohl aber weiß man auch, dass man durch ein solches Auftreten nicht nur den Krieg verlängert, sondern sich möglicherweise auch um die Chance gebracht sieht, den Krieg am Verhandlungstisch zu beenden, gar vielleicht auch der Gefahr aussetzt, selbst in einen Krieg hineingezogen zu werden, der derzeit noch ein bedauernswerter regionaler Krieg zu sein scheint.
Eine NATO-Mitgliedschaft hat weder damals, noch heute zur Debatte gestanden; hierzu hat di Ukraine nicht die Voraussetzungen erfüllt. Die Möglichkeit eines Beitritts der Ukraine zur EU und die damit verbundene Hoffnung der Ukraine auf europäischen Beistand ist ebenso politisch schwierig zu beantworten, denn hier geht es um Voraussetzungen, die auch die Ukraine zu erfüllen hat. Denn hier geht es um das politische Abwägen zwischen Staaten, die bereits länger auf einen Beitritt hoffen, und der Ukraine, der man keine Überholspur zugestehen kann, auch nicht zugestehen darf. „Es geht bei der Frage nach dem EU-Beitritt auch um den Umgang mit den Staaten auf dem Westbalkan. Man kann diesen ja nicht vor den Kopf stoßen und die Ukraine in die EU hineinholen, obschon diese ihre Hausaufgaben noch nicht vollends erledigt hat.“, so Vosteen.
Wie nun aber löst man diesen Krieg? Die Frage bleibt!
Nach einer intensiven Debatte bleibt diese Frage zurück. Es ist eine Diskussion über mögliche Fehler im Vorfeld des Krieges gewesen, es ist eine Debatte darüber gewesen, wie man der Ukraine beistehen könne, wie man mögliches verlorenes Vertrauen wiedergewinnen kann. Es ist ein vorsichtiges Herantasten an die Frage gewesen, inwieweit Sanktionen greifen, inwieweit sie wirken, inwieweit Waffenlieferungen zur Beendigung des Krieges beitragen können.
Wie nun aber beendet man diesen Krieg? Es scheint, als ringt die Politik um die richtige Antwort, die richtige Taktik, die richtige Strategie. Es scheint, als hofft man … Noch immer schaut man traurig gen Osten, noch immer wischt man sich scheinbar die Reste eines Traumes aus den Augen, der spätestens 2022, nicht überraschend, doch lauter als erwartet, beendet worden ist.
Wie nun aber löst man diesen Krieg? Man nimmt die Verantwortung an, man korrigiert politische Entscheidungen. Man sieht genau hin. Nach Osten. Die Frage bleibt zurück!